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 Die Vorgeschichte  >>> Incipit >>>

Nach dem Zeugnis des hl. Hieronymus erfand Marcus Tullius Tiro, der Freigelassene Ciceros, als erster sogenannte Notae: kurzschriftliche Zeichen. Seneca und andere sollen die Anzahl der Noten auf einige Tausend gebracht und das Werk der 'Notae' vollendet haben, wie es eingeteilt in 'Kommentare' und deren Unterkapitel überliefert ist. In der Antike wurden die Noten zum einen von den Notaren bei Hof, bei Gericht und auf Synoden, zum anderen von den Schnellschreibern bei Reden, bei Predigten und im Diktat als die große technische Errungenschaft ihrer Zeit eingesetzt. Doch erstaunlicherweise wurde in den Jahrhunderten zwischen Antike und Mittelalter Kenntnis und Gebrauch der Noten fast ausschließlich am fränkischen Königshof dauerhaft fortgeführt.
789 ließ Karl der Große durch seine kulturpolitischen Anweisungen in der 'Admonitio generalis' in den Schulen unter anderem diese Noten wieder mit Nachdruck studieren. In karolingischer Zeit wurden sie in der Folge nicht nur in den königlichen und kaiserlichen Kanzleien benutzt, sondern auch in manchen Schulen und von einigen Gelehrten erfolgreich gepflegt. Sie hinterließen uns mehr als 20 vollständige Handschriften der 'Commentarii', außerdem unzählige tachygraphische Notizen in insgesamt einigen hundert Handschriften und schließlich tachygraphische Subskriptionen in einer vergleichbaren Anzahl urkundlicher Dokumente. In Handschriften des 10. Jahrhunderts allerdings findet man kaum noch tironische Noten. Wenn sie in diesem oder den folgenden Jahrhunderten noch auftauchen, ist das spezielle Interesse einzelner Gelehrter der Grund.
1603 brachte Jan Gruter in Heidelberg die Notensammlung unter dem Titel 'Notae Tullii Tironis ac Annaei Senecae' nach zwei Handschriften erstmals zum Druck. Doch auch in den folgenden zwei Jahrhunderten wusste die Wissenschaft dem Notenschatz --- außer Bewunderung --- wenig entgegenzubringen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden in der gelehrten Welt Ideen und erste Konzepte für ein Lexikon, mit dessen Hilfe man die Bedeutung einer beliebigen Note ermitteln könnte. Die Mühseligkeit, ein solches Lexikon zu erstellen, wurde sprichwörtlich ("tironische Noten sortiren"), und Goethe gefiel sich darin, sie zu verspotten.
1817 schließlich gelang es Ulrich Friedrich Kopp sein Lexicon Tironianum zu vollenden; er ließ es als Teil II der Tachygraphia Veterum und damit als Band II seines Hauptwerkes, der Palaeographia Critica, drucken. Bis heute bildet dieses Werk die Grundlage aller tironischen Studien. Der dreifache Anspruch dieses Buches umfasst die Erklärung der Noten, die Vollständigkeit des Notenschatzes und einen Schlüssel zum Auffinden der Noten. In unbestrittener Perfektion gelang Kopp die Erklärung der Noten als Verschmelzung reduzierter Buchstabenformen. Die Vollständigkeit des Notenschatzes war freilich nicht von Dauer: Sein Werk entfachte die tironischen Studien in ungeahntem Maße und führte zu Neuentdeckungen, die in der tironianistischen Fachliteratur zwar dokumentiert, aber nicht erschlossen sind. Der Kopp'sche Schlüssel jedoch konnte oftmals nicht zufriedenstellen. Die Bemühungen von Jules Tardif, der in einer Arbeit von 1854 einen Zugang zum Schlüssel Kopps über eine erschöpfende Zusammenstellung von graphischen Formen entwickelte, fanden in der Fachwelt keinen Anklang.
1893 legte Wilhelm Schmitz, Gymnasiallehrer in Köln, eine kritische Edition mit dem Titel 'Commentarii Notarum Tironianarum' (CNT) vor. Mit diesem Werk wurde der Umfang des verfügbaren Notenschatzes um einiges vergrößert. Nach Bernhard Bischoff, der 1965 den Nachdruck des Kopp'schen Lexicons betrieben hat, arbeitete zuletzt Rudolf Heckel an einem praktikablen Schlüssel, der allerdings abermals nicht zur Vollendung kam. Der Schlüssel, den Costamagna, Baroni und Zagni 1983 unter dem Titel 'Notae Tironianae quae in lexicis et in chartis reperiuntur novo discrimine ordinatae' herausbrachten, blieb in vielen Belangen hinter den Erwartungen zurück. Erneuter Anstoß zur Verwirklichung eines tironischen Lexikons ging vom Konzept des Hypertextes aus, das im ausgehenden 20. Jahrhundert zur Gestaltung des World Wide Web entwickelt wurde und sich in Form der Hypertext Markup Language (HTML) etablierte.
Einen ersten Entwurf habe ich 1999 in Herbert Ernst Wiegands Heidelberger Lexikographischem Kolloquium vorgestellt. Bis zur Realisierung eines ersten geschlossenen Notenverzeichnisses im Hypertext-Lexikon der tironischen Endungen (2008) waren einige Jahre vergangen, obwohl die dort erschlossenen Silben- und Endungsnoten nur etwa ein Zwanzigstel des gesamten Notenschatzes ausmachen. Das nun vorliegende Hypertext-Lexikon der tironischen Noten wurde aus dem Notenschatz der CNT entwickelt, um die gesamte Vielfalt der tironischen Formen berücksichtigen zu können. Zum Zeitpunkt der Eröffnung im November 2011 umfasste es etwa 10500 tironische Noten und somit den größeren Teil eines Notenschatzes, der zwar grundsätzlich nicht genau beziffert, aber in einer Größenordnung zwischen 10000 und 15000 angesiedelt werden kann. Nach Abschluss der ersten Erfassung der CNT im April 2012, in deren Verlauf ich aus Ungeduld manche komplizierte Notengestalt übergangen und als unbedeutend für die Praxis eingestuft habe, betrug die Anzahl der aufgenommenen Wortnoten 12959.
Für Aufbau und Pflege der Datenbank, sowie die Umsetzung der Daten in HTML wird das Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen (TUSTEP) eingesetzt.
Besonderer Dank gilt Walter Berschin, der mein Interesse für die tironischen Noten geweckt hat, und meiner Familie, Ute und Moritz, die das Projekt mit Liebe, Kritik und Geduld begleitet haben.

Vorarbeiten:
Ulrich Friedrich Kopp: Lexikon tironianum (1965); Nachdruck von: Tachygraphia veterum 2 (Palaeographia critica 2, 1817).
Jules Tardif "Mémoire sur les notes tironiennes" in: Mémoires présentés par divers savants a l'Académie des inscriptions et belles-lettres II 3 (1854) 104-171.
Giorgio Costamagna - M. F. Baroni - L. Zagni: Notae Tironianae quae in lexicis et in chartis reperiuntur novo discrimine ordinatae (Fonti e Studi del Corpus Membranarum Italicarum II: Fonti Medievali 10, 1983).
Martin Hellmann "'Tironische Noten sortiren...' Zur Lexikographie der lateinischen Stenographie" in: Wörterbücher in der Diskussion IV. Vorträge aus dem Heidelberger Lexikographischen Kolloquium, hg. von Herbert Ernst Wiegand (Lexicographica. Series Maior 100, 2000) 155-173.

--- admonitio --- structura --- basis --- historia --- notae --- terminationes ---